Zum Andenken an Friederike Mayröcker ✨

Heute ist die österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker im Alter von 96 Jahren in Wien gestorben. Frühjahr 1994 war es, da nahm ich in der Kölner Germanistikbibliothek mein erstes Buch von Friederike Mayröcker in die Hand. Es trug den schönen Titel: „mein Herz mein Zimmer mein Name“. Ich begann zu lesen und da stand: „es kommt auf den ersten Satz an, sage ich zu meinem Ohrenbeichtvater, auf den allerersten Satz, kannst du das verstehen, mit was für einem Satz ein solches Buch anfängt, sage ich, darauf kommt alles an, und ob es den, der das erste Blatt aufschlägt, zum Lesen zwingt, zum Lesen und Weiterlesen, darauf kommt es an, das Erwachen des Auges...“ Ich las weiter und ich hörte nicht mehr auf – das war’s, verloren für immer. Plötzlich sah alles zehnmal so groß aus wie normal. Alle Farben waren intensiver, alle Gefühle unmittelbarer. Freundschaften schienen außergewöhnlicher. Die französische Schriftstellerin Nathalie Sarraute hat einmal gesagt: „Man versteht, weil man empfindet“. So erging es mir bei der ersten Lektüre, die zu einer aufregenden Reise durch die Nacht wurde. Zwei Jahre später zog ich nach Wien. Damals gab ich eine Literaturzeitschrift mit heraus und bat Friederike Mayröcker auf dem Postweg um einen Text für die nächste Ausgabe. Sie antwortete und lud mich zu einer Lesung ihres Lebensgefährten Ernst Jandl ein am 21. März 1996 - die Eröffnung des „Spoken-Word-Festivals Word up!“ im Wiener Museumsquartier. Eine große Halle, bis zum Rand gefüllt mit Menschen. Jandl las mit unverkennbarer Stimme seine Lautgedichte in wechselnder Lautstärke, flüsternd, brüllend, voller Humor und mit Tuchfühlung zum Publikum. Tosender Applaus. Schließlich traute ich mich hinter die Bühne. An diesem Abend begann für mich etwas Unverwechselbares, eine Annäherung, die ein Leben lang Stand gehalten hat, mit meiner ganzen Bewunderung, meiner Zuneigung und meinem Respekt. Die vielen Male, in denen wir miteinander gesprochen haben und sich eine Freundschaft entwickelte, durch die ich mich geehrt, mehr noch gerührt und bestärkt fühlen durfte – bekam ich eine erste Ahnung von der Komplexität der Schreibwelt Friederike Mayröckers. Davon, welche Präzision, Imaginationskraft und gestalterische Freiheit in ihr am Werk ist. Mit welch hochsensiblem Gebilde ich es zu tun hatte, leicht erschütterbar durch jede Störung. Gleichzeitig ausgestattet mit einer Radikalität, die - anknüpfend an das künstlerisch-philosophische Erbe des Surrealismus - die poetische Sprache der Gegenwart revolutionierte. Ohne sie hätte ich keinen österreichischen Literaturpreis gewonnen mit 23 Jahren und wäre nicht angespornt gewesen, meine eigenen Gedichte zu veröffentlichen, auch meinen Weg zum Radio und Fernsehen hat sie in Briefen und Gesprächen begleitet. Dadurch sind exklusive Interviews entstanden, die in diesem Nachruf, der heute im DLF Büchermarkt gesendet wurde, im Originalton zu hören sind:

https://srv.deutschlandradio.de/themes/dradio/script/aod/index.html?audioMode=3&audioID=931110&state=

FM’s französischer Lieblingsphilosoph Jacques Derrida schrieb einmal: „Das Gedicht tragen heißt, sich in seine Trag- und Reichweite begeben, es in jene des anderen bringen, es dem anderen zu tragen geben.“ Mayröckers Literatur spricht von sich ohne Selbstgefälligkeit. Sie ist eine zärtliche Gabe. Ein aufrichtiges Geschenk. Denn keiner, so dichtete es Hölderlin in „Die Titanen“, trägt das Leben allein.

(c) Christine Reifenberger

(c) Christine Reifenberger